Wie eine Idee im Kopf entsteht

    «If you can dream it, you can do it» – fast jeder Disney-Fan kennt dieses Zitat von Walt Disney, doch was hat es mit der Entwicklung eines pädagogischen Schulprojektes zu tun?

    In den Sekundarschulen wird gemäss Lehrplan 21 im Zyklus 3 in Geschichte der Zweite Weltkrieg thematisiert. Dieser Unterricht basiert oft auf «trockenen» Schulbüchern, historischen Texten, Karten und Filmmaterial.

    In meinem Geschichtsunterricht an einer Zürcher Sekundarschule entstand ein Aufsatz einer Schülerin, welche ihre Grossmutter zu ihrer Kindheit während des Zweiten Weltkrieges interviewte.

    «Diese Geschichte beeindruckte mich so sehr, dass ich Lena fragte, ob ich ihre Grossmutter zu dieser Thematik kontaktieren könnte. Einige Wochen später besuchte ich Margrit zu einem informativen Gespräch. Die freundliche Rentnerin erzählte mir über ihre Jugend in der Nähe von Dübendorf, wo sie während der Kriegsjahre in einem Reiheneinfamilienhaus nahe dem Flughafen aufwuchs.»

    Zwischen 2010 – 2015 entstand im Unterricht der Eindruck, dass immer mehr der Zeitzeugen, die über die Kriegszeit berichten konnten, verstarben. Die Idee kam auf, die Kriegs-Erlebnisse digital per Video festzuhalten. Diese Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind die Urgrosseltern der heutigen Schülerinnen und Schüler. Bis jetzt fehlen ihre Aussagen weitgehend in den Geschichtsbüchern und sie werden bald verloren gehen, wenn sie nicht dokumentiert werden.

    Um dies zu verhindern, entstand die Idee eines digitalen Buches, welches Schülerinnen und Schülern individuelles und selbstständiges Lernen ermöglicht. Studien zeigen, dass diese Art von Lernen hilft, Informationen nachhaltiger aufzunehmen.

    Erste Schritte in der Umsetzung

    (Bilder: zVg) Zeitzeugen Interview mit Charlotte und «BIG Media».

    Ein Prototyp des digitalen Buches «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» konnte 2018 an den «International Study Days» an der Pädagogischen Hochschule Lausanne vor einem renommierten Fachpublikum präsentiert werden. Die Jury war begeistert und empfahl das Projekt zur Weiterentwicklung. In der Folge wurde ein konkretes Konzept ausgearbeitet und die Finanzierung geplant. Lehrmittelverlage waren nicht daran interessiert. Einzig der Geschichtsprofessor Peter Gautschi, von der Pädagogischen Hochschule Luzern, erwies sich als wichtiger Unterstützer und Ratgeber in so mancher praktischen Frage. Mit der Firma «Big Media» konnte zudem ein kompetenter Partner für die technische Umsetzung gefunden werden.

    Hindernisse und Disziplin in der Realisierung
    Als Privatperson ist es in der Schweiz praktisch unmöglich, Gelder für Schulprojekte zu generieren. Daher musste der «Verein für zeitgemässes Lernen» gegründet werden. Nur so konnten die Gelder zahlreicher Stiftungen gefunden und die Finanzierung gesichert werden.
    In vielen hundert Arbeitsstunden entstand neben dem Schulunterricht langsam das «geträumte» digitale Schulbuch. Wertvolle Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus allen vier Sprachregionen konnten gefunden, besucht und interviewt werden. Filmmaterial wurde gesichtet und neu geschnitten. Studentinnen halfen in der Transkription der Untertitel ins Hochdeutsche, Fehler wurden behoben und schlussendlich wurde das digitale Buch im Sommer 2019 im Unterricht getestet und evaluiert.

    Mit grossem Einsatz und Eifer war die Lancierung des digitalen Buches «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» für den 1. September 2019 geplant, exakt auf «80 Jahre Kriegsausbruch». Schülerhinweise beklagten jedoch einige technische Probleme. Zudem wurde das Layout in Frage gestellt. Die Produktionsfirma «Big Media» arbeitete auf Hochdruck, um alles bis zur Lancierung zu perfektionieren.

    Lancierung des digitalen Buches «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg»
    In der Vorwoche der Lancierung stellte ein Bekannter bei der Präsentation des digitalen Buches die entscheidende provokative Frage: «Wer oder was setzt das Projekt dermassen unter Druck, dass es gerade zum jetzigen Zeitpunkt lanciert werden muss?» Als Initiantin des Projekts musste ich zugeben: «Die einzige Person, die mich unter Druck setzte und mir im Weg stand, war ich selbst». Schlagartig wurde klar, dass das Projekt in dieser Phase nicht lanciert werden konnte und eine Überarbeitung brauchte.

    Zeitzeugen Interview mit Silvia.

    Ein halbes Jahr später sah die Welt anders aus: Corona hatte die Schweiz fest im Griff und die Schulen standen im Lockdown. Am 8. Mai 2020, zum Anlass «75 Jahre Kriegsende», lancierte der «Verein für zeitgemässes Lernen» schliesslich das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» über die Presse, «Tele Z» und Social Media. Die vermeintliche Niederlage mit der Absage der ersten Lancierung erwies sich als goldrichtig. Während des Lockdowns fand das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» wegen der Interaktivität viel Aufmerksamkeit.

    Schlussfolgerung
    Die Lehre aus dem Entstehungsprozess des digitalen Buches ist: «Ein Projekt muss immer zwei Mal gedacht werden: Einmal geträumt und bei der Realisierung noch einmal überdacht.» Dabei braucht es nicht nur Disziplin, sondern auch Stehvermögen, Hindernisse und Uneinigkeiten in der Projekt Realisation zu überwinden sowie neue, mutige, vielleicht unbekannte Wege zu beschreiten. Das Zitat «If you can dream it, you can do it», erwies sich als richtig. Kritische Freunde sind dabei aber ebenso wichtig.

    Mehr zum Projekt unter:
    www.erikabigler.ch
    www.ch-jugend2wk.ch
    www.bigmedia.ch

     

    Erika Bigler,
    Sekundarlehrerin, Projektleiterin und
    Präsidentin des «Verein für zeitgemässes Lernen»

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